Gedanken zum 8. Mai
10. Mai 2023
Aufklärung, Erinnerungsarbeit, Friedensarbeit
Anlässlich der Veranstaltung „Gegen das Vergessen! – 75 Jahre Menschenrechte“ am 9.5.2023, veranstaltet vom „Pfad der Menschenrechte“, hielt unser Mitglied Reiner Liebau die folgende Rede.
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst herzlichen Dank für die Einladung zur heutigen Veranstaltung.
Gestern vor 78 Jahren kapitulierte die faschistische deutsche Wehrmacht.
Wir wurden von Krieg und Faschismus befreit.
Befreit von einem Krieg, der insgesamt 60 Mio. Tote forderte, 27 Millionen auf dem Gebiet der Sowjetunion, wo ein Vernichtungskrieg geführt und verbrannte Erde hinterlassen wurde. Als Beispiel für weitere Kriegsverbrechen verweise ich auf Oradour in Frankreich.
Befreit von einem Faschismus, der ganze Gruppen organisiert vernichtet hatte und Millionen in die Zwangsarbeit deportierte.
Es mussten allerdings noch 40 Jahre vergehen, bevor dieser Tag erstmals offiziell als Tag der Befreiung bezeichnet wurde. Das tat Richard von Weizsäcker 1985.
Die Befreiung von Krieg und Faschismus am 8. Mai 1945 verhinderte noch Schlimmeres: Die Verwirklichung des Generalplan Ost. Danach sollten 50-60 Prozent der Einwohner der Sowjetunion beseitigt werden, insbesondere die Stadtbevölkerung, wie es bei der Blockade von Leningrad geschah.
Weitere 15-20 Prozent sollten nach Sibirien vertrieben werden. Ein Teil war mit den Worten von Himmler als „Sklave für unsere Kultur“ gedacht, vor allem in der Landwirtschaft für deutsche Siedler. Gründlich wie die Planer waren, konnten bereits Modelle der künftigen Siedlungshäuser besichtigt werden.
Die ärgsten Totengräber der Menschenrechte sind Krieg und Faschismus.
Vor dem Hintergrund der Barbarei beschloss die Generalversammlung der UN am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Krieg ist Entmenschlichung. Im Krieg gelten keine Menschenrechte. Krieg bedeutet die größte Erniedrigung des Menschen und das größte Elend. Kriegsverbrechen auf beiden Seiten gehören dazu. Traumata verfolgen noch die nachfolgenden Generationen.
In allen Ländern, die an Kriegen beteiligt sind, gehört die Einschränkung von Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit dazu, hinzu kommen die sozialen Folgen.
Der 8. Mai 1945 ist nicht denkbar ohne den 30.Januar 1933, die Machtübertragung an Hitler. Damals hatten Rechtskonservative in der Regierung noch die Mehrheit. Nach der Ilegalisierung von KPD und SPD lösten sich alle bürgerlichen Parteien bis Juli auf.
Am 23. März entmachtete sich das Parlament mit dem „Ermächtigungsgesetz“
Am 2. Mai wurden die Gewerkschaftshäuser gestürmt, die ersten Konzentrationslager mit Gewerkschaftern, mit Kommunisten und Sozialdemokraten gefüllt. Die Arbeiterbewegung als Kraft, die ihnen noch hätte gefährlich werden können – denn zu der Zeit saßen die Nazis noch nicht ganz fest im Sattel -, wurde ausgeschaltet.
Am 10. Maierfolgte mit der Verbrennung NS-kritischer und pazifistischer Literatur und den Werken marxistischer und jüdischer Autorinnen und Autoren ein weiterer wichtiger Schritt der Gleichschaltung. Durchgeführt von Studenten, Professoren, Bibliothekaren und dem Buchhandel.
Es gab im Faschismus Opfer, Täter, Angepasste, Geldgeber, Nutznießer, und es gab selbst in den dunkelsten Zeiten Widerstand in verschiedensten Formen – wenn auch bei uns leider niemals massenhaft. Die Erinnerung an all diese Facetten scheint mir notwendig, um diese Zeit zu begreifen und Lehren zu ziehen.
Nur drei Tage nach der Machtübertragung, am 3. Februar 1933, traf Hitler sich mit den Oberbefehlshabern der Wehrmacht und erläuterte seine Kriegsziele: „Die Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung.“ Für die Öffentlichkeit hielt Hitler damals noch Friedensreden.
Die Heeresleitung hatte bereits seit 1925 zusammengestellt, was man für einen neuen Feldzug als Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg brauchte. Daran konnte Hitler nahtlos anknüpfen. Der Militarismus war eine tragende Säule des Faschismus.
Carl von Ossietzky wurde schon vor 1933 verurteilt, weil er in der Zeitschrift Die Weltbühne über verbotene Aufrüstung der Reichswehr schrieb. Die Nazis sperrten ihn ins KZ.
Die NSDAP nutzte die juristischen Instrumente der Weimarer Verfassung wie die Notverordnungen, die eigentlich nur vorübergehend gelten sollten, für ihre Machtdurchsetzung. Sie konnte sich somit einen scheinbar legalen Anstrich für die Durchsetzung ihrer terroristischen Willkürherrschaft geben. Der Faschismus ist die Aufhebung aller demokratischen Rechte und Freiheiten.
Die Lehre daraus lautet: Das Ringen um den Erhalt und den Ausbau demokratischer Rechte und das Eintreten gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist zur Verhinderung des Faschismus unverzichtbar. Der Zerschlagung der Demokratie geht die Einschränkung der demokratischen Rechte voraus. Diese Einschränkungen konnten die Faschisten nutzen und radikalisieren.
Nutzen und radikalisieren konnten sie auch den Antisemitismus, der in den Holocaust mündete. Für ihn hatten andere aktiv vorgearbeitet, z.B. der Alldeutsche Bund. Dessen Vorsitzender Heinrich Claß hatte schon 1918 angesichts von Revolution und Niederlage gegenüber dem Kaiser erklärt, nun helfe nur noch, alle Schuld auf die Juden abzuwälzen. Er fand offene Ohren beim Kaiser. Der hatte 1907 erklärt: „Die Juden sind die Parasiten meines Reiches.“
Der Antisemitismus war Wahn und Kalkül zugleich. Mit ihm sollten die Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern und das Prinzip der Gleichheit zwischen den Menschen ausgeschaltet werden. Stattdessen sollte die Ideologie der Rasse, die den „Artfremden“ im Inneren und Äußeren gegenübersteht, gelten. Durchgesetzt werden sollte das Prinzip des Stärkeren, das an die Stelle des Rechts treten sollte.
Zu den Lehren des 8. Mai zählt: Hätten die demokratischen Kräfte rechtzeitig zusammengearbeitet, hätte die Barbarei von 1933 – 1945 verhindert werden können.
Doch diese Erkenntnis reifte bei vielen erst in den Konzentrationslagern.
Nachträglich kann man zur Entlastung sagen, sie wussten damals noch nicht, was der Faschismus an der Macht bedeutete – heute gibt es diese Entschuldigung nicht mehr.
Den Anfängen wehren – war eine weitere Lehre. Doch wo fängt es an?
Im Rückblick wurde ganzen Menschengruppen das Menschsein, das Existenzrecht abgesprochen, im Gegensatz zu den sogenannten „Herrenmenschen“, denen sich die Folgsamen zuordnen konnten.
Ganze Menschengruppen wurden dämonisiert und für alle gesellschaftlichen Übel verantwortlich gemacht.
Das waren damals vor allem die Juden, politische Gegner als „Volksschädlinge“, Roma und Sinti, Slawen, weiterhin Behinderte als “lebensunwert“, Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – straffällig wurden, wurden als nicht besserungsfähig eingestuft. Alle wurden der Vernichtung ausgeliefert.
Ein Motto der Französischen Revolution war: „Alle Menschen werden Brüder“ – und Schwestern muss man heute ergänzen. Damals waren sie noch nicht soweit. Die Absage an die Gleichwertigkeit aller Menschen ist ein Kernpunkt faschistischer Ideologie.
Mit der Gleichwertigkeit aller Menschen ist jeder Rassismus, Chauvinismus und Hochmut gegenüber anderen Völkern unvereinbar.
Ein weiteres damit verbundenes Element ist die Ideologie der Volksgemeinschaft. Hinter einem völkischen Bild der Nation – sie wird als eine Art Organismus verstanden – verschwindet die soziale Frage, verschwinden alle sozialen Unterschiede oder gar Gegensätze. Stattdessen gibt es „Volksschädlinge“ und die, die nicht dazugehören.
Ein Element , das damals in der Zeit der Großen Krise bei manchen Gruppen als sozialer Kitt gefragt war.
Diese Momente charakterisieren auch heute diese Kräfte, mögen sie sich auch vordergründig von ihren Vorläufern distanzieren. In Italien ist inzwischen eine Mussolini-Bewunderin Regierungschefin, in der AFD gibt es einen einflussreichen völkischen Flügel mit Björn Höcke als ausgewiesenem Nazi.
Bei uns gab es nach 1945 immer faschistische und neofaschistische Organisationen und von ihnen ausgehende Gewalt. Mit wechselnden Namen und Organisationsformen.
Und der Anteil der Bevölkerung, der ein rechtsgestricktes Weltbild hat, wird laut Studien über die Jahre mit ca. 20 % angegeben.
Ultrarechte bis faschistische Tendenzen sind in vielen Ländern und bei uns aktiver geworden. Sie verstehen es wieder besser, Menschen anzusprechen und auch zu organisieren. Gespenster der Vergangenheit leben wieder auf. Um Stimmen zu erhaschen auch in gutbürgerlicher Verkleidung.
Antifaschismus dient der Verteidigung der Menschenrechte.
Frage: Was ist Antifaschismus? Nur anti? Manchmal auch das: In Minden mussten wir uns 2006 wiederholt faschistischen Aufmärschen entgegenstellen. In Bad Nenndorf konnten sie schließlich mit beharrlichen und phantasievollen Gegenaktionen beendet werden.
Der Schwur von Buchenwald ist Grundlage, am Mahnmal in der Tonhallenstraße zu finden. In ihm heißt es: „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln und Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit!“ Das ist diegemeinsame Überzeugung, entstanden in den Konzentrationslagern und nach der Befreiung. Das ist unsere Orientierung als VVN-BdA bis heute.
Antifaschismus ist also ein klares PRO!
Blicken wir auf die Zeit vor 1933: Es herrschten Elend, Perspektivlosigkeit, das Schwinden von Hoffnungen auf Verbesserung der eigenen Lage, Abstiegsängste. Das wurde von den Faschisten aufgegriffen und mit illusionären Versprechungen gefüllt.
Die soziale Lage blieb elend. Die Massenarbeitslosigkeit sank erst durch die Kriegsproduktion, die aber die Voraussetzungen für den eigenen Tod schuf.
Mit den Waren aus den besetzen Ländern und der sogenannten Arisierung des Eigentums der jüdischen Nachbarn stieg die Zustimmung. Der Nazistaat funktionierte auch als „Beutegemeinschaft“.
Auch heute haben wir große soziale Verwerfungen, die Demontage solidarischer Sicherungssysteme, eine große Entsolidarisierung, Abstiegsängste und eine unfassbare Schere zwischen Arm und Reich.
Oxfam errechnete, dass eine verschwindend kleine Zahl von 2.668 Milliardären einen unvorstellbaren Reichtum von 12,7 Billionen US-Dollar besitzt, das entspricht 13,9 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Die sozialen Verwüstungen des Neoliberalismus bilden den Nährboden für den Aufstieg rechter Kräfte. Wobei diese Kräfte ihrerseits dem Neoliberalismus und Sozialdarwinismus huldigen. Sie haben keine sozialen Lösungen anzubieten. Die Probleme werden von ihnen nur genutzt, einfache nationalistische und völkische Antworten gegeben und Sündenböcke gesucht. Heute sind es vor allem unsere migrantischen Mitmenschen und die Asylsuchenden. Solidarische Antworten werden torpediert.
Die soziale und wirtschaftliche Absicherung für alle Menschen ist wichtiger Bestandteil der antifaschistischen Alternative und wichtiger Bestandteil der Menschenrechte (Artikel 22 – 27).
In Artikel 3 ist das Recht auf Leben enthalten. Das Recht auf Leben kann es nur im Frieden geben. Frieden ist die Grundlage für Leben, Kultur und Entwicklung, grundlegendes Menschenrecht und Grundlage aller anderen.
Alle Kriege sind sofort zu beenden! Mögen Verhandlungen auch noch so kompliziert sein.
Seit dem 6. August 1945, dem Abwurf der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima gibt es erst recht keine Alternative mehr dazu. Vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung des Vernichtungsarsenals, des Schwindens von Vorwarnzeiten, leben wir an der Schwelle der Selbstvernichtung. Damit leichtfertig umzugehen, ist unverantwortlich. Anfang der 1980er Jahre gab es in der Sowjetunion einen Fehlalarm. Es ist dem damaligen diensthabenden Offizier zu verdanken, dass er als solcher erkannt wurde und wir uns daher heute hier zusammenfinden können.
Daniel Ellsberg, ehemaliger Vietnamkriegs-Stratege, wies jüngst am Ende seines Lebens eindringlich darauf hin, dass der Einsatz von Atombomben nicht nur in der Kuba-Krise ernsthaft erwogen wurde!
Die heutigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die drohende ökologische Katastrophe, deren Beginn wir bereits erleben, mit den Klimaveränderungen im Zentrum fordert unser Handeln, Umsteuern in vielen Bereichen.
Die Folgen tragen heute in erster Linie die armen Länder: Dürren, Überschwemmungen, vernichtete Ernten, Hunger, Vertreibung. Das ist die vollständige Negierung der Menschenrechte der Menschen in diesen Regionen.
Der Generalsekretär der UN, Guterres, beschrieb die Situation: „Die Ungleichheiten explodieren und unser Planet verbrennt. Wir haben die Pflicht zu handeln, und doch befinden wir uns in einer globalen Sackgasse. Die internationale Gemeinschaft ist weder bereit noch willens, die dramatischen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.“ Diejenigen, die immer weiter große Gewinne mit der Verschmutzung machen, müssten zur Verantwortung gezogen werden.
Diese Herausforderungen sind nur kooperativ zu lösen – oder sie sind es gar nicht. Das aber wäre der Untergang der Welt, wie wir sie kennen.
Wir brauchen zur Bewältigung alle vorhandenen menschlichen und technischen Ressourcen. Stattdessen erleben wir eine beschleunigte weltweite Rüstungsspirale, die diese Ressourcen verschlingt. Das Institut SIPRI errechnete, dass über 2,24 Billionen US-Dollar für Rüstung verpulvert werden. Wir wissen seit vielen Jahren, dass ein Bruchteil davon Hunger besiegen, Bildung und Zugang zu trinkbarem Wasser für alle Menschen sichern kann.
Unser Überleben als Menschheit, die Menschenrechte unserer Kinder, Enkelkinder und der folgenden Generationen erfordern ein radikales Umsteuern. Die Möglichkeiten zur Bewältigung der Herausforderungen sind vorhanden, die Möglichkeiten für den Erhalt der Natur, für ein Leben in Würde, sozial abgesichert, ohne Hunger, ohne Angst vor Krankheit, Armut und Alter sind gegeben.
Der jüdische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman mahnte: „Nicht sehen, nicht suchen wollen, und damit die Möglichkeiten eines anderen Zusammenlebens mit weniger Leid zu unterdrücken, ist Teil des Leids und trägt zu seiner Fortdauer bei.“
Sehen wir also nicht weg, suchen wir nach Wegen, um gemeinsam den Humanismus mit seinen für alle geltenden Menschenrechten zur Wirklichkeit werden zu Lassen!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Reiner Liebau
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Minden-Lübbecke e.V.